Demokratisch handeln im Klassenrat
An vielen Hamburger Schulen sind in den letzten Jahren Streitschlichter ausgebildet worden. Eltern fragen oft, warum wir am Albrecht-Thaer-Gymnasium diesen Weg nicht auch gegangen sind.
Aus der Arbeit mit Hamburger Schulen, die sich an der Streitschlichterausbildung beteiligt haben, weiß ich, dass zwar die teilnehmenden Schüler und Schülerinnen von dieser Ausbildung sehr profitieren, dass es auch einzelne gute Erfahrungen gibt, dass jedoch die Akzeptanz der Streitschlichter in der Schule bei denen, für die sie ausgebildet wurden, oft nur gering ist. Denn die betroffenen Schülerinnen und Schüler, die von den Streitschlichtern Gebrauch machen sollten oder könnten, mögen sich meist nicht eingestehen, dass sie ein Problem haben, welches sie alleine nicht lösen können. Der Weg zu den Streitschlichtern gilt dann als das Eingeständnis des eigenen Versagens. Und wer will das schon gerne zugeben? Inzwischen wurden auch wissenschaftliche Untersuchungen in den USA und Großbritannien, veröffentlicht, wo die Streitschlichterprogramme entwickelt worden sind. Sie bestätigen diese Erfahrung und zeigen, dass die hohen Erwartungen, die an den Einsatz der Streitschlichter in Schulen geknüpft worden sind, sich nicht bestätigt haben. Der Spiegel berichtete in der Ausgabe 11/2004 davon.
Wir haben an unserer Schule gute Erfahrungen bei der Streitschlichtung im Klassenrat gemacht. Dort sind alle Schüler einer Klasse bei der Konfliktlösung dabei und lernen – auch wenn sie an einem Streit nicht aktiv beteiligt sind – wie man sich in einem Konflikt verhalten kann und mit welchen Strategien man vor allem körperliche Auseinandersetzungen vermeiden bzw. einen Streit deeskalieren kann. Bei einer Streitschlichtung ist es wichtig, nicht nur die Streitenden im Auge zu haben, sondern auch das Umfeld mit in die Vermittlung einzubeziehen. Die Gruppe, in der ein Streit ausbricht, ist häufiger als man denkt durch ihr Verhalten am Entstehen von Streitigkeiten beteiligt, z.B. durch Wegsehen, Tolerieren oder gar Aufstacheln bestimmter Verhaltensweisen bei einzelnen Mitschülern, wie das folgende Beispiel zeigt: Die Kinder einer 6. Klasse wissen ganz genau, wie man Hannes wieder "hochbringen" kann und drücken zur Unterhaltung am Schulvormittag die bekannten Knöpfe. Mal sehen, wie weit Hannes noch geht. Deshalb ist es so wichtig, dass die Gruppe, in der der Streit entstanden ist, an der Aufarbeitung des Konflikts beteiligt ist. Oftmals sind es die Unbeteiligten, die darauf hinweisen, dass Hannes Verhalten durch die Reize anderer Mitschüler wieder ausgelöst worden ist. Hannes befindet sich unter Umständen in einer Art Teufelskreis. Selbst wenn er sein Verhalten gerne verändern möchte, hat er wenig Chancen, wenn die Gruppe ihn dabei nicht unterstützt, sondern ihn immer wieder in seinen alten Rollenmustern verstärkt.
Im Klassenrat können also alle in der Gruppe lernen, wie Konflikte entstehen und sich zuspitzen können, wie man Streitigkeiten vermeiden kann, aber auch, an welcher Stelle man die Konflikt- oder Gewaltspirale unterbrechen kann bzw. muss, damit ein Streit nicht eskaliert. Die Schülerinnen und Schüler lernen, dass Konflikten meist unterschiedliche Interessen zugrunde liegen, dass es unterschiedliche Sichtweisen einer Situation gibt und dass jede ihre Berechtigung haben kann. Sie lernen Kritik anzuhören und auch anzunehmen. Häufig sind es immer wieder dieselben Schüler, die in Konflikte involviert sind. Die Streitenden müssen sich jedoch nicht an eine für sie fremde Institution wenden, sondern das Problem wird quasi "vor Ort" geklärt, oftmals sogar durch Nicht-Beteiligte überhaupt erst thematisiert. Wenn die Klasse sich als ganze verantwortlich fühlt und sich zum Ziel setzt, Probleme gemeinsam zu lösen, dann profitieren auch die Kinder davon, die nicht zu den Streitenden gehören. Alle werden zu Experten, nicht nur eine kleine Gruppe ausgebildeter Streitschlichter. Dabei lernen die Kinder in der Klasse auch, wie sie ihre Interessen sachgerecht vertreten können und wie sie aus einem Interessenkonflikt gestärkt hervorgehen, wenn sie ihn konstruktiv gelöst haben. Der Einzelne soll ja keineswegs seine Interessen nur zurückstellen, sondern lernen, die Spielräume für die Verwirklichung seiner Interessen in einer Gemeinschaft sozialverträglich auszuhandeln. Dadurch wird der Klassenrat zu einer Institution, in der Kinder und Jugendliche lernen, demokratisch zu handeln.
Konfliktbearbeitung nach einem festen Ritual
- Die Wandzeitung wird aufgerufen und die einzelnen Punkte werden nacheinander vorgelesen
- Die- oder derjenige, die/der den Punkt eingebracht hat, äußert sich
- Die unmittelbar Betroffenen bzw. Angesprochenen äußern sich
- Die anderen SchülerInnen nehmen Stellung
- Lösungswege bzw. Lösungsvorschläge werden entwickelt
- Vereinbarungen, mit denen beide Parteien leben können, werden getroffen und im Protokoll festgehalten
- Nach einer Woche beim Verlesen des Protokolls werden die Vereinbarungen überprüft
Klassenrat besteht bekanntlich nicht nur aus Streitschlichtung, dieser Gesichtspunkt spielt vor allem in den Unterstufenklassen eine große Rolle. Svenja Meier und Lena Kasdorf aus meiner Klasse schreiben in ihrem Artikel in diesem Heft darüber, wie sich die Themen im Klassenrat von der Unterstufe zur Mittelstufe hin verändern. Im Klassenrat haben nämlich auch endlich die Gremien unserer Schule, wie z.B. die Schülervertretung oder der Umweltrat, einen Ort gefunden, an dem die gewählten Vertreter Themen und Ergebnisse basisdemokratisch vermitteln können, indem sie ihre Mitschüler informieren und deren Einwände und Beiträge in ihr Gremium zurücktragen können. Ohne die Klassenratsstunde hatten wir dafür früher kaum angemessen Zeit. Ebenso schult der Umgang mit Tagesordnung, Gesprächsleitung, Protokoll und Abstimmungsverfahren im Klassenrat die Schülerinnen und Schüler für die Teilnahme an demokratischen Willensbildungsprozessen. In einer Institution wie der Schule, in der die Partizipation von Schülerinnen und Schüler noch wenig Raum hat, kann der Klassenrat dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler sich für den Umgang miteinander und für sich selbst verantwortlich fühlen, wenn sie ihre eigenen Angelegenheiten in dieser Stunde gemeinsam beraten und entscheiden können. Und wir wollen ja gerade, dass die Schülerinnen und Schüler mehr Verantwortung - auch für ihr Lernen - übernehmen.
Der Weg zu diesem Ziel verläuft nicht immer geradlinig, ist oft schwierig und mit Hindernissen gepflastert. Die Schüler brauchen Hilfe von ihren Klassenlehrer/innen, die die Gruppe auf diesem Weg begleiten und unterstützen müssen. Die Lehrer und Lehrerinnen des Albrecht-Thaer-Gymnasiums haben sich ganz bewusst dafür entschieden, einen Teil der Arbeitszeit, die im neuen Arbeitszeitmodell für die Klassenlehrertätigkeit vorgesehen ist, gemeinsam mit der ganzen Klasse zu verbringen und die Klassenratsstunde im Stundenplan fest zu verankern. Das bedeutet zwar noch einmal eine Stunde mehr im Stundenplan, aber wir schätzen an der Klassenratsstunde außer den schon oben genannten Punkten, dass wir endlich die Möglichkeit haben, ohne Zeitdruck mit den Schülerinnen und Schülern Organisatorisches zu regeln, in Ruhe mit den Kindern und Jugendlichen die Belange der Klasse zu klären, die Klassengemeinschaft zu fördern und die Atmosphäre in der Klasse auf diese Weise positiv zu beeinflussen, die Schüler einmal von einer anderen Seite kennen zu lernen und uns selbst auch einmal von einer anderen Seite zeigen zu können.